Das Verlassen der Welt der Verschwörungen – wie kann man seinem Umfeld helfen?
Verschwörungstheorien und -mythen beschäftigen spätestens seit Anfang der Coronapandemie große Teile der Bevölkerung. Die Meinungen zu diesen sind gespalten: Von Forderung nach Akzeptanz über Skepsis bis hin zu Belustigung reagieren Menschen unterschiedlich auf die Versuche, sich die Welt und ihre komplexen Vorgänge zu erklären. Aber was bedeutet es eigentlich, wenn sich eine nahestehende Person immer mehr in die Fänge von Verschwörungen und ungewöhnlichen Weltanschauungen begibt? Kann man aus der Welt der Verschwörungen wieder zurückkommen? Und wie gefährlich sind Verschwörungstheoretiker*innen tatsächlich? Wir sprechen mit einer Expertin, die sich mit diesen Fragen täglich beschäftigt und uns auf diese Antworten gibt. Mag. Ulrike Schiesser ist Psychologin und Psychotherapeutin sowie Mitarbeiterin in der Bundesstelle für Sektenfragen in Wien, die Beratung und Information zu sogenannten “Sekten” und Weltanschauungsfragen anbietet.
verschwoerung.at: Welche Personen wenden sich tendenziell an Sie und wie können Sie diesen helfen?
Ulrike Schiesser: Die Bundesstelle für Sektenfragen ist zuständig für all jene Konflikte, die im Zusammenhang mit Weltanschauungsfragen stehen. Das heißt, immer wenn das Umfeld sagt, jemand verändert sich stark oder eine Gemeinschaft agiert plötzlich auf eine bestimmte Art. Es entsteht prinzipiell der Eindruck, dass es einer Person nicht gut geht, dann wenden sich diese Personen an die Bundesstelle. Grundsätzlich meldet sich in erster Linie das Umfeld der betroffenen Person, da diese merken, dass sich die Person verändert und das nicht in eine positive Richtung. Dadurch entsteht der Eindruck, dass sich die Person eventuell selbst gefährdet. Die enge Familie und Freundeskreis, das Arbeitsumfeld, aber auch Betroffene selbst, die eine Zeit lang an Verschwörungstheorien geglaubt haben, melden sich.
Wenn es in einem Bereich um Spiritualität und Glaube geht, dann ist die Hemmschwelle geringer, auch an andere ungewöhnliche Dinge zu glauben. Wenn ich mir vorstellen kann, dass es Außerirdische gibt, die kommen und mir Energien schicken oder Seelen von Atlantis existieren, dann ist es auch leichter vorstellbar, dass die Erde hohl ist, es Echsenwesen gibt oder dass alle Geschicke der Welt vom Orden der Illuminati gelenkt werden. Es gibt einen Zusammenhang, dass generell gläubige Menschen eine höhere Wahrscheinlichkeit aufweisen, an Verschwörungstheorien zu glauben.
In den letzten Jahren waren Verschwörungstheorien immer eigentlich nur nebenbei ein Thema bei der Bundesstelle für Sektenfragen. Dabei ist es eher um Themen aus dem Gesundheitsbereich gegangen, wie dass die Pharmaindustrie uns alle krank machen will und Chemtrails uns nur gefügig machen wollen. Weitere handeln von 5G und jeder Art von Strahlung, so auch Mikrowellen. Grundsätzlich führen neue Technologien immer schnell zu neuen Verschwörungstheorien. Neu ist jetzt, dass die Anzahl der Anfragen wegen Verschwörungstheorien mehr geworden sind und die Ansichten immer extremer werden.
verschwoerung.at: Wie können Sie helfen oder wie kann man selbst etwas unternehmen?
Das Problem ist sehr komplex und hat viel mit der Persönlichkeit und dem Umfeld sowie der aktuellen Zeit zu tun. Es gibt hier keine simple Antwort und keine einfache Lösung, wir lassen uns immer die Situation genau schildern. Das heißt: Wer ist diese Person? Wie geht es der Person finanziell, psychisch, physisch? Wie sind die Beziehungen, das Umfeld der Person? Welche Probleme hat Corona für die Person hervorgebracht? Warum passiert es genau dieser Person?
Grundsätzlich soll mit der/dem Anrufer*in gemeinsam herausgefunden werden, warum sich das alles entwickelt hat, was die Ursachen sind, dass genau diese Person in das hineingerutscht ist. Welchen Sinn haben diese Verschwörungstheorien für die betroffene Person? Jetzt in der Corona Pandemie ist es oft so, dass Personen eine Art Leerlauf verspüren, sprich einen mangelnden Fokus im Leben und gleichzeitig zu viel Zeit oder mehr Zeit als sonst. Ziel der Bundesstelle für Sektenfragen ist es, die Gesprächssituation zu verbessern und die Möglichkeit, überhaupt mit der betroffenen Person in Kontakt zu bleiben, aufrecht zu erhalten, denn Verschwörungstheorien sind ein emotionales Thema und kein Informationsdefizit.
verschwoerung.at: Wo verschwimmt die Grenze zwischen Meinungsverschiedenheit und Verschwörung?
Bei einer Meinungsverschiedenheit bewegt man sich zumindest in derselben Realität, denn auch wenn hier Emotionen ebenfalls eine große Rolle spielen, diskutiert man mit denselben Fakten. Die Betroffenen von Verschwörungsmythen schieben die Informationen einfach weg, dann hat man das Gefühl, nicht diskutieren zu können, weil man wie in zwei verschiedenen Realitäten lebt. Mit jemandem zu diskutieren, der sagt, dass alle Informationen, die man hat, falsch sind, lässt einen ziemlich hilflos fühlen, das Gegenüber rutscht einem immer wieder weg und das Gespräch führt zu keinem Ergebnis.
verschwoerung.at: Kann man aus dem Verschwörungsdenken wieder herausfinden?
Allein durch Gespräche mit Mitarbeiter*innen der Bundesstelle für Sektenfragen können die Betroffenen nicht wieder heraus kommen. Die Personen gehen aus einer solchen Situation, weil sie selbst zur Erkenntnis gekommen sind und Erfahrungen gemacht haben, die einen Bruch in ihrem Weltbild erzeugt haben. So einen Prozess kann man von außen nicht erzwingen, dieser muss im Inneren einer Person aktiv stattfinden. Durch Veränderungen im Leben und der Umgebung sowie in neuen Lebensabschnitten kann sich das Weltbild einer Person verändern. Oft steigen Personen auch aus, weil es ihnen in den Gruppen zu extrem geworden ist und sie dann ihre Anschauungen hinterfragen. Wenn dieser „Riss“ oder diese Trennung vom Verschwörungsglauben stattgefunden hat, ist es in weiterer Folge sehr wichtig, den Personen Informationen zu bieten.
verschwoerung.at: Für wie wichtig halten Sie Aufklärungsarbeit und an welcher Stelle sollte diese geschehen?
Aufklärung ist wichtig, aber nicht die einzige Lösung, denn trotz vieler verfügbarer Informationen steigen die Anhänger von Aberglauben und Irrationalität, was aber auch damit zu tun haben kann, dass sich viele Betroffene in dieser komplexen Welt etwas einfaches wünschen, sich zurückziehen und mit Gleichgesinnten ein simpleres Weltbild zimmern.
Aufklärung ist auch in den Schulen wichtig. Hier müssen aber zuerst die Lehrer*innen geschult werden, die Generation 40+ hat mehr Nachholbedarf im Navigieren durch die Informationsflug als die unter 20-Jährigen. Es ist auch wichtig, den Umgang mit neuen Medien und mit Informationen generell zu lernen, beispielsweise wie bewerte ich Informationen oder welche Quellen sind gut?
Auf staatlicher Ebene wäre es hilfreich, einen Informationsstandard zu schaffen, sprich wo finde ich eine Stelle, der ich vertrauen kann. Auf der anderen Seite sollte über Wissenschaftskommunikation gesprochen werden,denn viele Leute verwechseln einzelne Studien oder Leute die einen Titel haben mit der Wissenschaft.
Noch ein wichtiger Punkt sind öffentliche Förderungen für Medien und Faktencheckseiten, die solide Recherche bieten und gute Information bringen.
verschwoerung.at: Sie haben vorher den sogenannten “Leerlauf” angesprochen. Gerade in den letzten Monaten ist dieser ja für viele Personen eingetreten und Realität geworden. Welche Veränderungen beobachten Sie daher durch diesen Faktor?
Es sind deutlich mehr Leute mit diesen Verschwörungsmythen gekommen, weiters sind auch die Personen anders. Der Anteil an Männern und Frauen ist sehr ausgewogen, aber es sind ganz viele die einen guten Bildungsstand haben. Früher war die Annahme, je höher der Bildungsstand, desto weniger wird an Verschwörungsmythen geglaubt. Eine Studie der Universität Basel zeigt aber, dass es einen extremen Überhang von Menschen mit einer durchschnittlich hohen Bildung gibt, die an Verschwörungstheorien glauben.
Auch die Intensität, mit welcher Familien belastet werden, ist deutlich angestiegen. Familien spalten sich und Freundschaften zerbrechen, da Themen wie die Impfung sehr heikel sind. Skurrilerweise tragen nun Coronaleugner*innen Masken, um sich vor den Geimpften zu schützen. Die Aussicht auf den Herbst zeigt, dass einige Eltern ihre Kinder von der Schule abmelden, wegen den Geimpften, Maskenpflicht oder den Coronatests. Für Kinder ist es eine massive Belastung, wenn sie Horrorgeschichten von angeblichen Würmern an Teststäbchen erzählt bekommen und Angst vor den Geimpften geschürt wird.
verschwoerung.at: Für wie gefährlich halten sie Verschwörungstheorien im Hinblick auf den politischen Diskurs? Und sehen Sie vielleicht sogar ein Gewaltpotential?
Es gibt keine harmlosen Verschwörungstheorien, denn auch die „harmloseren“ wie dass Elvis noch leben soll, sagen grundsätzlich aus: Glaube nicht dem was du hörst! Vertraue niemandem! Verschwörungstheorien hetzen auch immer gegen irgendeine Gruppe, beispielsweise sind Journalist*innen zunehmend gefährdet in ihrer Arbeit bei Veranstaltungen oder Demonstrationen. Wenn Journalist*innen nicht mehr zu einer Demonstration gehen können, ohne körperliche Gewalt erleben zu müssen in einem Land wie Österreich, dann ist der Schritt zu einem Gewaltausbruch durch Verschwörungstheorien nur ein ganz kleiner. Verschwörungstheoretiker schüren Angst, hetzen und stellen sich dann selber als die Alternative dar.
verschwoerung.at: Was ist die extremste oder außergewöhnlichste Ansicht, die Ihnen in Ihrer Arbeit untergekommen ist?
Realitätsfremd sind Theorien über Außerirdische und Echsenwesen, die unsere Politiker*innen alle ersetzt haben und in der hohlen inneren Erde leben und mit denen man in Kontakt treten kann. Eine weitere skurrile Ansicht ist, dass in Österreich jedes Jahr 30.000 Kinder entführt und in unterirdischen Tunneln festgehalten werden. Diese Theorie wurde laut den Verschwörungstheoretiker*innen durch das Erdbeben im Frühjahr in Wien untermauert, das in Wirklichkeit kein Erdbeben gewesen sein soll, sondern nur eine Sprengung eines Tunnels, aus welchem dann Kinder befreit wurden.
verschwoerung.at: Sie sind ja im Rahmen Ihrer Arbeit medial sehr präsent. Werden Sie auch schon als Teil einer Verschwörung gesehen oder vielleicht sogar angegriffen?
Oft kommen E-Mails von Personen, die mir vorwerfen, Teil einer Verschwörung zu sein. Es werden aus Zufällen wie dem Datum einer Veröffentlichung eines Berichtes der Bundesstelle Schlüsse auf eine geheime Strategie einer alles kontrollierenden Macht gezogen. Um mich selbst zu schützen, habe ich unter anderem eine Meldeauskunftssperre beantragt. Man fängt durch Drohbriefe schon an, sich über die eigene Sicherheit Gedanken zu machen.
verschwoerung.at bedankt sich herzlich bei Mag. Ulrike Schiesser für das Interview! Weitere Informationen zur Bundesstelle für Sektenfragen sowie ihre Kontaktmöglichkeiten, um sich Hilfe und Beratung zu holen, findet man unter https://www.bundesstelle-sektenfragen.at/